Nadeschda Rotmoser war ein Mann in Schwarz. Nie hatte ihn jemand in anderer Kleidung gesehen, nie jemand ohne Kleidung. Der einzige Farbtupfen, den er sich gestattete, war seine goldene Brille. Wobei das Gold nur den unteren Teil der dicken Gläser umfasste; der obere Rahmen blieb schwarz. Den Namen verdankte Rotmoser seinen Eltern. Beim Nachnamen hatten sie keine Wahl, beim Vornamen trafen sie die falsche. Nadeschda gefiel ihnen. Dass es ein Frauenname war, wussten sie nicht. Oder es war ihnen egal; wie dem Standesbeamten. Und so beginnt die abenteuerliche Geschichte des Drachenmädchens.
Der Nat
Seine wenigen Freunde sagten Nat zu ihm. Ihnen hatte er die abenteuerliche Geschichte von seinem Aufenthalt in den USA erzählt, auf der Suche nach seinem verschollenen Vater, einschließlich einer ziemlich wilden Klapperschlange, die er im Grand Canyon mit bloßer Hand erwürgt hatte. So erarbeitete sich Nadeschda einigen Respekt und hielt sich die menschlichen Klapperschlangen vom Hals.
Nadeschda Rotmoser war Lehrer, hatte es also mit jeder Menge menschlicher Klapperschlangen zu tun: seine Mädchen am Mädchengymnasium Unserer Lieben Aussätzigen, deren Eltern in ihren dicken Häusern und protzigen Autos und dem Lehrerzimmer voller Nonnen. Er war der einzige Mann. Außer der Mutter Oberin natürlich. Die war härter als Granit. Rotmoser konnte ihr nichts entgegensetzen. Denn Mutter Oberin trug einen Bart, der einem Orang-Utan zur Ehre gereicht hätte. Rotmoser hatte keine Chance gegen sie, bei Damenbärten wurde er schwach. Nicht vor Begehren, vor Entsetzen. So können wir uns die Qual vorstellen, die er in seiner Kindheit und Jugend durchlitt: Seine Mutter hatte einen Damenbart gehabt wie ein Gnu.
Innige Blicke
Aber was störten Nadeschda Rotmoser alle Damenbärte der Welt? Er war mit seiner Klasse unterwegs, im Bus, der frühe Oktobermorgen schmeichelte wie Seide, er hatte schon drei innige Blicke von Susannah eingesogen.
Seither träumte Nadeschda Rotmoser durch das Busfenster in den fahlen Morgen. Susannah und ihre vollen Lippen. Susannah und ihr Faltenrock, ihre Kniestrümpfe, ihre Zöpfe. Die anderen Mädchen mochten sie verlachen, die dummen Ziegen, aber Susannah war voller Leben, voller Liebe, voller Geist. Noch nie hatte er sich mit einer Schülerin über Schopenhauers Pudel philosophieren können. Mit Susannah konnte er es. Die anderen Gören kannten nur ihr Smartphone, die dummen pickeligen Jungs, die sie im Bett in sich hinein steckten und ihre Klamotten.
Schnapp den Mops!Nadeschda warf einen langen Blick den Gang zurück, auf der Hinterbank, in der Mitte, saß Susannah und lächelte ihm zu. Sein Herz machte einen kleinen Hüpfer. Dann setzte der Lehrer sich einen Platz nach rechts, direkt ans Fenster und träumte in den Morgen hinaus.
Runder Mond
Als er erwachte, war es Tag, aber der Mond stand noch groß, rund und blass am Himmel. Rotmoser schaute und staunte: Der Mond trug einen Damenbart. Der Mond sprach: “Herr Rotmoser!” Na sowas. “Herr Rotmoser!” Nein, es kam von links, die Mutter Oberin stand dort. Ihr rundes Gesicht mit dem ausgeprägten Bart spiegelte sich in der Scheibe mit dem Mond dahinter. “Herr Rotmoser, wird es nicht Zeit für Ihren Vortrag?”
“Ja, ja natürlich.” Lehrer Rotmoser erhob sich steif und ging nach vorne, zum Mikro. Er schaltete es an, pustete zweimal rein – und prallte in den Blick von Susannah, die ihm aufmunternd zulächelte. So flog sein kleines Referat über die Burg Wetzelstein dahin, die sich eitel am gegenüberliegenden Ufer des Flüsschen Felch in der Sonne räkelte.
Ritter, unglückliche Burgfräuleins, Gespenster, alles da. Aber mancher der Gören war das schon wieder zu mittelalterlich und zu gruftig. Bankdirektor Rampenhases Tochter Euphemania hörte erst eine Weile demonstrativ gelangweilt zu, schmatzte dazu auf ihrem fetten Kaugummi herum, machte eine knallende Blase, sortierte dann, mit beherzten Eingriffen über den Halsausschnitt ihres T-Shirts, in ihrem zeltförmigen BH ihre ausladenden Brüste – und stand dann auf und schnappte sich Rotmosers Mikro: “Sie, Herr Lehrer, was machen die da?” Sie zeigte auf ein paar Kinder, die am Flussufer Drachen steigen ließen. Was für eine Frage, dachte Rotmoser, so doof kann doch nicht einmal eine Direktorentochter in der Prima sein. “Sie lassen Drachen steigen”, antwortete Rotmoser nachsichtig sanft.
Langweilig
“Och, wie langweilig, Drachensteigen finde ich doof”, maulte Euphemis und trödelte zu ihrem Platz zurück.
Rotmoser antwortete ihr über das Mikrofon, sollte die Klasse ruhig etwas lernen, und während er sprach, fegte ihm wieder einer von Susannahs Blicken durch die Synapsen seines Kleinhirns. Der Herr Lehrer antwortete: “Liebe Euphemia, Drachen steigen lassen ist eine schöne Sache. Äh. Vor allem für uns männliche Spezies. Es ist schön, wenn wir ihn hochkriegen. Das ist in jedem Alter erfüllend. Äh. Den Drachen. Hochkriegen meine ich, äh.”
Der Mutter Oberin entfuhr ein gepresstes Fauchen, das in ein Pfeifen überging. Dann stand sie auf, Rotmoser sah ihr Vollmondgesicht in der Nonnentracht, kreisrund, den vibrierenden Damenbart, diese umwucherten Lippen, den Bart, den Bart, den Bart: “Rotmoser!”, zischte die Mutter Oberin, Rotmoser fühlte die Schwäche in sich aufsteigen, zog das Genick ein, die Schwäche wucherte wie ein Krebsgeschwür in ihm. “Ich gehe mit, Nat!” rief Susannah, die hinter der Oberin auftauchte und Rotmoser anstrahlte. Das Krebsgeschwür der Angst und Schwäche zog sich zusammen, wurde klein, immer kleiner, dann war es weg. Rotmoser nahm Susannah bei der Hand, die Mutter Oberin pfiff wie ein Pampashase, Rotmoser ließ den Busfahrer rechts ranfahren. Die Schülerinnen klatschten, die Mutter Oberin war pfeifend zwischen den Sitzen abgetaucht.
Hand in Hand
Hand in Hand verließen Nadeschda Rotmoser und Susannah Ebenholz den Bus und anderntags die Schule.
Susannah machte nach ihrer Hochzeit einen Salon für Damenbärte auf. Ihr Mann Nat Rotmoser schrieb den Bestseller: “Die deutsche Philosophie der Romantik unter Berücksichtigung des Einflusses von Damenbärten”.
Sie bekamen fünf Kinder, alles Mädchen, alle ohne Damenbart, und lebten glücklich und zufrieden bis an ihr seliges Ende.